Dem Sinnlosen Sinn geben? – Thomas Bauer über Seuchen als (kreative) Herausforderung für Religion und Gottesglaube

Theologische Schlaglichter auf Corona
Symbolbild "Theologische Schlaglichter auf Corona" - mit Bild von Prof. Dr. Dr. Thomas Bauer

Seuchen und Plagen sind ein immer wiederkehrendes Motiv in der Mythologie und Geschichtsschreibung des Abendlandes. Selten bis nie machen sie dabei Unterschiede zwischen Guten und Bösen, Schuldigen und Unschuldigen. „Damit sind die individuelle Erfahrung schwerer Krankheit, eigener wie fremder, und die kollektive Erfahrung von Seuchen und Pandemien, Herausforderungen an Religion und Gottesglauben“, urteilt Prof. Dr. Dr. Thomas Johann Bauer, Neutestamentler an der Universität Erfurt. Denn sie stellten Gläubige vor die Frage nach dem Wesen Gottes sowie den Prinzipien seines Handelns.

von Prof. Dr. Dr. Thomas Johann Bauer

Am Anfang der Literatur und Kultur des Abendlandes steht – etwas plakativ und undifferenziert formuliert – eine Seuche. Die Ilias, das große unter dem Namen des mythischen Dichters Homer überlieferte Epos aus dem 8. Jahrhundert v.Chr. beginnt damit, dass der Priester Chryses im Namen seines Gottes Apollon die Herausgabe seiner Tochter erbittet, die Agamemnon, dem Anführer der Griechen, als Kriegsbeute und Ehrengeschenk zugefallen ist. Agamemnon jedoch, bedacht auf seine eigene Ehre, verweigert die Herausgabe, beleidigt den Priester und missachtet den Gott. Apollon erhört die Klage seines Priesters und bringt mit seinen Pfeilen die Pest über das griechische Heer, das vor Troja liegt. Erst als Chryses seine Tochter zurückerhält, gebietet der Gott der Seuche Einhalt.

Auch die bekannte Tragödie „König Ödipus“ des athenischen Dichters Sophokles beginnt mit einer Seuche. Die Pest hat die Stadt Theben heimgesucht und, da man keinen Rat mehr weiß, hat König Ödipus nach Delphi geschickt, um vom Orakel des Gottes Apollon die Ursache der Seuche zu erfragen. Vom Orakel erfahren König und Volk, dass der ungesühnte Mord am früheren König Laios, dem Vorgänger des Ödipus und ersten Gatten der Königin, der Grund der Seuche ist. Werde der Mord gesühnt, würde die Seuche enden. Der Fortgang der Tragödie enthüllt, dass Ödipus nicht nur der Mörder des Königs ist, sondern dass er sich in noch größeren Frevel verstrickt hat, weil dieser König Laios sein eigener Vater war und er mit dessen Frau die eigene Mutter geheiratet und mit ihr Kinder gezeugt hat.

Aufgeklärt, sachlich und geradezu modern erscheint demgegenüber die berühmte Schilderung der Pest in Athen im Jahr 430 v.Chr. in der Darstellung des Peloponnesischen Krieges des athenischen Historikers Thukydides. Die Ärzte waren besonders betroffen, weil sie am meisten Kontakt mit Kranken hatten. Der Sommer trägt mit seiner Hitze zur Ausbreitung und Eskalation der Seuche ebenso bei wie der Krieg, der immer mehr Leute vom Land hinter die Mauern der Stadt Schutz suchen lässt. Bei Orakeln und Göttern ist keine Hilfe zu finden. Mit der fortschreitenden Ausbreitung der Seuche brechen in der Stadt Moral und Ordnung zusammen.

"Stellen Leid, Krankheit und Tod des Unschuldigen und Guten nicht die Existenz Gottes oder seine Güte oder seine Allmacht infrage?"

– Thomas Johann Bauer

Während in der Ilias und bei Sophokles die Seuche Folge der Verletzung einer von den Göttern sanktionierten Norm ist und dadurch Sinn erhält, dass sie Sühne für die Verletzung der Norm erzwingt und damit auf die Stabilisierung von Ordnung als Grundlagen menschlichen Zusammenlebens zielt, treten in der analytischen Schilderung des Thukydides die vollkommene Hilflosigkeit der Menschen und das erschreckend Sinnlose der Seuche in den Vordergrund. Was bei Thukydides aufscheint, findet sich auch in dem bedeutenden, 1946 vollendeten Roman »Die Pest« des französischen Literaten und Philosophen Albert Camus. Die Figur des Arztes Rieux repräsentiert einen ähnlich nüchtern-distanzierten Beobachter wie Thukydides. Ihm steht der Priester Paneloux gegenüber, der ähnlich wie in der Ilias und bei Sophokles die Pest als strafendes Eingreifen Gottes erklärt, um ihr Sinn abzuringen. Über beide konfrontiert der Roman seine Leser*innen mit der absurden Wahrheit, dass die Pest unschuldige Kinder dahinrafft, während andere, die den Tod verdient hätten, überleben.

Seuche oder gar Pandemien spielen in der Jesus-Erinnerung im Grunde keine Rolle, sodass sich in der neutestamentlichen Überlieferung kein Jesus-Wort findet, in dem sich explizit die Sicht Jesu auf solche Katastrophen fassen ließe. Allerdings bietet die neutestamentliche Überlieferung auch keinen ausreichenden Anlass für die Annahme, dass Jesus und die frühe Jüngergemeinde grundsätzlich die in ihrer Umwelt wohl mehrheitlich vertretenen Sicht ablehnten, dass solche Ereignisse entweder als Strafe Gottes bzw. der Götter für Verletzungen göttlich sanktionierter Normen oder als das Wirken dämonischer Mächte zu erklären sind. Worte, die entweder den Zusammenhang zwischen Krankheit und Sünde als Übertretung einer von Gott sanktionierten Norm aufheben oder die Verbindung zwischen Krankheiten und Dämonen bestreiten, sind im Neuen Testament selten (z.B. Joh 9,2f.). Besonders deutlich ist dieser Zusammenhang in apokalyptischen Szenarien, wie sie auch Jesus aus der jüdischen Überlieferung vertraut waren. Seuchen sind hier Teil des Endzeitdramas, in dem Gott die Sünder und alle, die sich ihm verweigern, straft. Auch das findet sich im Neuen Testament (vgl. Offb 6,7f.; 9,5f.; 16,2.10f.).

Obgleich dies in der Tradition der Kirche(n) immer wieder als Grundlage und Rechtfertigung einer Position diente, wie sie im Roman von Camus der Priester Paneloux als Repräsentant einer christlichen und religiösen Weltsicht vertritt, kann dies nicht der Maßstab einer christlichen Deutung und Erklärung von Leid und Krankheit oder gar von Seuchen oder Pandemien sein. Maßstab muss die Erfahrung sein, dass Krankheiten, Seuchen und Pandemien keinen Unterschied machen zwischen Guten und Bösen, Schuldigen und Unschuldigen. Damit sind die individuelle Erfahrung schwerer Krankheit, eigener wie fremder, und die kollektive Erfahrung von Seuchen und Pandemien, Herausforderungen an Religion und Gottesglauben. Diese Erfahrungen stellen den Menschen vor die Frage, die für die Religion bleibend zentral ist – nämlich die Frage nach dem Wesen Gottes und den Prinzipien seines Handelns. Diese Frage verschärft sich, wenn man – wie im Christentum, aber auch im Judentum und Islam – annimmt, dass es einen Gott gibt, den man als gut und allmächtig definiert. Stellen Leid, Krankheit und Tod des Unschuldigen und Guten nicht die Existenz Gottes oder seine Güte oder seine Allmacht infrage? Denn wenn er wirklich ist, kann oder will er dann den Menschen in ihrer Not nicht beistehen, nicht einmal denen, die ihm Vertrauen schenken?

Der Autor

Prof. Dr. Dr. Thomas Johann Bauer ist Professor für Exegese und Theologie des Neuen Testaments an der Universität Erfurt. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. die Johannesoffenbarung,  die Anfänge des Christentums und seiner Literatur im Kontext der Kultur- und Religionsgeschichte der römischen Kaiserzeit ebenso wie neutestamentliche, frühchristliche und antike Briefe sowie Geschichte und Überlieferung der lateinischen Bibel.

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