Stolz, aber wachsam – "Theologie im Gespräch mit Politik" fragt nach dem Erbe der "Friedlichen Revolution"

Veranstaltungen
Podiumsdiskussion "Theologie im Gespräch mit Politik"

Dreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer stellte sich die Veranstaltungsreihe „Theologie im Gespräch mit Politik“, eine Kooperation der Katholisch-Theologischen Fakultät und des Katholischen Forums im Land Thüringen, mit zwei Podiumsdiskussionen der Frage: Was bleibt von der Friedlichen Revolution? Was von den Gesprächen am 30. Oktober sowie 13. November bleibt ist ein Appell: Mehr Stolz, mehr Engagement, weniger Angst! Ein Rückblick.

von Desiree Haak

Wenn die Rede auf den 9. November kommt, spricht der Volksmund gern vom “Schicksalstag der Deutschen”. Mit der Novemberrevolution von 1918, dem Hitlerputsch von 1923, der Reichsprogromnacht von 1938 und dem Mauerfall von 1989 ist dieser Herbsttag auf ewig in die deutsche Geschichte eingewoben. Besonders die Ereignisse vor 30 Jahren wirken dabei greifbar nahe – nicht zuletzt weil jene Menschen, die den Schritt von einem politischen Wertesystem in das nächste auch in die eigene Biografie übersetzen mussten, bis heute noch aktive Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Gesellschaft und Politik sowie Wirtschaft, Kultur und Kirche sind.

Der Rückblick: Vermächtnis und Auftrag der Friedlichen Revolution

Eben diese Menschen und ihren Geschichten widmete sich das Podium am 30. Oktober: Moderiert von Steffen Zimmermann, Hauptstadt-Korrespondent von katholisch.de, sprachen an diesem Abend über “Vermächtnis und Auftrag der Friedlichen Revolution” der Bildungsminister der ersten freigewählten DDR-Regierung, Prof. Dr. Hans-Joachim Meyer (CDU), der Oberbürgermeister der Stadt Erfurt in der „Nach-Wende-Zeit“, Manfred Ruge (CDU), der evangelische Jugendpfarrer Lothar König, Bischof Dr. Ulrich Neymeyr, sowie der Historiker Dr. Patrice G. Poutrus und der Fundamentaltheologe Prof. Dr. Michael Gabel.

Die Podiumsteilnehmer würdigten den großen Mut all jener, die sich in der DDR um eine aktive Bürgerrechtsbewegung verdient gemacht und damit den Weg für die Ereignisse im November 1989 geebnet hatten. Die “größte Bewunderung für die Geduld und Ausdauer der Mensch zu dieser Zeit” brachte etwa Michael Gabel zum Ausdruck. Gleichzeitig betonten die Diskutanten die generelle Umsicht aller Beteiligten sowohl im Zuge der Montagsdemonstrationen in Leipzig als auch am Abend der Grenzöffnung selbst. “Die Menschen können stolz sein, dass es ihnen gelungen ist, eine Diktatur abzuschütteln, ohne einen einzigen Tropfen Blut vergossen zu haben”, erklärte Bischof Neymeyr, der als gebürtiger Wormser auf dem Podium die einzige “westdeutsche” Perspektive auf die Geschehnisse von 1989 in die Runde einbrachte. Und auch Manfred Ruge unterstrich, dass “viele Leute damals etwas gewagt” hätten. Über die generelle Bedeutung zivilen Engagements fuhr Lothar König, der bis heute als Menschenrechtler aktiv in Jena wirkt, fort: “Wir brauchen ein paar Aufrechte, die etwas wollen.” Dem widersprach Hans-Joachim Meyer: “Nicht die Wenigen machen Geschichte, sondern die Menschen. Doch einige wenige können Vorbilder sein.”

"Man sollte immer bedenken, dass die gewonnene Freiheit auch wieder verloren gehen kann!"

– Dr. Patrice G. Poutrus

Nur schwerlich konnte die Diskussion dabei aus dem Schatten der Thüringer Landtagswahl heraustreten, bei der wenige Tage zuvor immerhin fast 24% aller wahlbeteiligten Thüringerinnen und Thüringer ihre Stimme zugunsten einer Partei mit einem rechtsextremen Spitzenkandidaten abgegeben hatten. “Erfurt ist ein so schöner Ort und ich bin überrascht, wie schlecht die Stimmung hier geworden ist”, kommentierte Patrice Poutrus. Der Historiker, der zum Zeitpunkt des Mauerfalls 29 Jahre alt gewesen war, kritisierte die AfD scharf dafür, dass sie in ihrem Wahlkampf eine „Wende 2.0“ gefordert hatte. Die Verwendung eines solchen Begriffes “bedeutet eine Gleichsetzung mit der DDR”, erklärte er, und eben das sei eine ganz “spezifische Form der Infamie.” Mit Blick auf ein unehmendes Erstarken populistischer Parteien rief er zur Wachsamkeit auf: “Man sollte immer bedenken, dass die gewonnene Freiheit auch wieder verloren gehen kann!” Einen letzten Rückblick auf die Geschichte warf auch Bischof Neymeyr, als er erklärte, dass es die deutsche Einheit nie gegeben hätte, “wenn nicht die Alliierten davon überzeugt gewesen wären, dass die Deutschen aus ihrer Geschichte gelernt hätten.” Entsprechend problematisch sei es, wenn nun ein Politiker, den man laut Gerichtsurteil offen als einen “Faschisten” bezeichnen dürfe, zunehmend an gesellschaftlicher Popularität gewinne.

Der Ausblick: Wohin mit Thüringen in Deutschland und Europa?

Den Bogen zwischen Vergangenheit und Zukunft versuchte das zweite Podium am 13. November unter dem Titel “Thüringen heute in Deutschland und Europa” zu spannen. Auf dem Podium saßen diesmal der ehemalige Thüringer Justiz- und Innenminister Dr. Holger Poppenhäger (SPD), die Erfurter Stadträtin Laura Wahl (Bündnis 90/Die Grünen), der Theologe und DDR-Oppositionelle Dr. Ehrhart Neubert sowie der Neutestamentler der Universität Erfurt, Prof. Dr. Dr. Thomas Johann Bauer.

Den Einstieg in den Abend gab Laura Wahl als jüngste Podiumsteilnehmerin. Die 25-jährige sprach von einer “Transformationserfahrung”, die auch in ihrer Generation noch spürbar sei. Gleichzeitig verwies sie auf die Jugendbewegung wie “Fridays for Future”, die eine beständige Hoffnung auf Wandel zum Ausdruck bringe: “Wandel ist immer möglich”, erklärte sie. An eine “Transformationserfahrung” knüpfte auch Erhart Neubert, der 1989 zu den Gründern der Partei “Demokratischer Aufbruch” in der DDR gehört hatte, an, indem er erklärte: “Revolutionen sind Prozesse – und wir wissen noch nicht, wo es hingeht.” Gleichzeitig sprach er davon, dass Umbruchsituationen wie jene von 1989/90 auch immer Schäden verursachten, deren Heilung über mehrere Generationen andauerte. Holger Poppenhäger betonte indes, dass der gesellschaftliche Konsens, der der Wiedervereinigung zugrunde läge, seinen Ausdruck in der Verfassung finde und dass die Thüringer Verfassung eine “offene” sei, die ganz bewusst differenzierte Meinungs- und Stimmungsbilder zulasse.

"Stabil wird ein Staat nicht, indem er auf Feindbilder aufbaut."

– Dr. Ehrhart Neubert

Auf die Frage des Moderators des Abends, Jan Hollitzer, Chefredakteur der “Thüringer Allgemeine”, ob sich die deutsche Gesellschaft für die Wiedervereinigung nicht genügend Zeit gegeben habe und die Debatte damit vielleicht zu schnell beendet worden sei, entgegnete Neubert: “Zur Demokratie gehört immer das eigene Engagement. Wer denkt, dass er bedient werden muss, ist unmündig!” Daran schloss auch Prof. Bauer an, der an die Weimarer Republik erinnerte: Sie habe zwar eine sehr gute Verfassung gehabt, sei aber daran gescheitert, dass es keine Demokraten gegeben habe – “ähnlich wie heute”, erklärte er. Er hob den freiheitlichen Staat als ein hohes Gut hervor, unterstrich aber auch, dass zur Demokratie gehöre “dass die eigenen Rechte dort enden, wo die eines anderen beginnen.” Man dürfe daher “nicht immer nur schimpfen”, erklärte der Neutestamentler, “denn Wurt kann und darf nicht das Prinzip sei, das uns unsere Gesellschaft leitet.”

Weiterhin betonte Bauer, der gebürtig aus Regensburg stammt, dass es nach der Wiedervereinigung von West- und Ostdeutschland nicht nur auf Seiten der neuen Bundesländer einen Wandel gegeben habe: “Die heutige Bundesrepublik Deutschland ist nicht mehr die alte Bonner Republik”, urteilte er. Die Friedliche Revolution habe einen “Paradigmenwechsel” eingeleitet, betonte auch Neubert. Zu erkennen sei dieser auch in der europäischen Idee und dem freiheitlichen Rahmen, den sie ihren Mitgliedern biete, etwa durch die Reisefreiheit. Vor Abschottung und politischer Stimmungsmache gegen “Fremde” warnte er indes mit der Mahnung: “Stabil wird ein Staat nicht, indem er auf Feinbilder aufbaut.”

Den Blick von Europa zurück nach Deutschland und Thüringen wandten abschließend Laura Wahl und Holger Poppenhäger. Wahl betonte dabei, dass für junge Menschen häufig gar nicht die “west-” oder “ostdeutscher Herkunft” relevant sei. Viel wichtiger sei heute oft zu allererst, welchem Wohnviertel Kinder und Jugendliche entstammten. Die Stadträtin verwies damit auf eine Segregation innerhalb des urbanen Raumes, dem von Seiten der Politik entgegengewirkt werden müsse. Poppenhäger unterstrich weiterhin, dass er die größten Probleme für den Freistaat dort sehe, wo demografische Probleme lägen. Er sprach außerdem von einer “selbsterfüllenden Prophezeiung”, wenn Thüringerinnen und Thüringer aus Unmut abwanderten und damit der Freistaat “schrumpfe”, weil sich die Menschen vor Ort ihre eigenen Leistungen und den damit verdienten Stolz nicht gebührend vor Augen hielten.