Staffelübergabe in der katholischen Kirche: Von der westlichen Welt zum globalen Süden

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Nahaufnahme Globus

Mit einer gewissen Selbstgefälligkeit schaut “der Westen” auf seine Bedeutung für die Geschicke dieser Welt. Dass seine Vormachtstellung aber vergänglich ist, zeigt sich in einem tiefgreifenden Strukturwandel, der derzeit die katholische Kirche erfasst: Während die Zahlen von Katholikinnen und Katholiken in Europa kontinuierlich sinken, wächst die Glaubensgemeinschaft im sogenannten “globalen Süden”. Schon heute ergeben sich für die Ordensgemeinschaften von Männern und Frauen daraus spürbare Konsequenzen. Damit einhergehen neue Verantwortlichkeiten und veränderte Denkmuster, erläutert Prof. Dr. Myriam Wijlens, Kirchenrechtlerin an der Universität Erfurt.

Hinweis der Redaktion: Mit einem Stern (*) markierte Fachbegriffe werden in einem Glossar am Ende des Beitrags erläutert.

von Prof. Dr. Myriam Wijlens

Unlängst veröffentlichte der Vatikan die jährlichen Statistiken der katholischen Kirche für das Jahr 2018. Daraus ersichtlich wird eine weltweite Zunahme von Katholikinnen und Katholiken in Höhe von mehr als 14 Millionen Personen gegenüber dem Vorjahr. Dieser Zuwachs erfolgte, wie auch in den vorherigen Jahren, vor allem in Afrika, Amerika – leider wird nicht zwischen Nord- und Südamerika unterschieden – sowie in Asien. Europa hingegen verzeichnet einen kontinuierlichen Rückgang. Somit verschieben sich das Gewicht sowie die Bedeutung der Kirche in Europa mit Blick auf die Gesamtkirche. Dieser Wechsel, der derzeit in der katholischen Kirche stattfindet, wird auch deutlich sichtbar in der Person von Papst Franziskus.

Wachsende Diversität auf dem Heiligen Stuhl?

Als 1978 der aus Polen stammende Papst Johannes Paul II gewählt wurde, galt dies als eine Sensation, denn seit mehr als 450 Jahren war kein Papst mehr gewählt worden, der nicht aus Italien stammte. Vielen werden daher gedacht haben, dass die Wahl von Papst Johannes Paul II eine Ausnahme sein würde. Sicherlich würde der nächste Papst erneut ein Italiener sein. Doch es kam anders: Auf Johannes Paul II folgte 2005 der deutsche Joseph Kardinal Ratzinger. Mit dieser Wahl wurde deutlich, dass, wer auch immer als Papst gewählt wird, nicht notwendigerweise aus Italien stammen müsse.

Gleichzeitig hörte man in nordeuropäischen Regionen damals oft folgende Spekulationen: “Ein Europäer würde auch der nächste Papst noch sein. Die anderen Teile der Welt seien noch nicht so weit, dass jemand von dort die Verantwortung übernehmen könne; dass jemand von dort dem Amt gewachsen sei. Der nächste Papst würde deswegen schon noch Europäer sein.” Aber es kam erneut anders: 2013 wurde der Erzbischof von Buenos Aires, Jorge Kardinal Bergolio – der heutige Papst Franziskus – gewählt. Dies war in vielerlei Hinsicht bemerkenswert, denn nicht nur war Kardinal Bergolio nicht in Europa geboren und vielleicht als Missionar nach Südamerika gezogen; auch hatte er nie ein Studium in Europa absolviert oder auch nur hier gearbeitet.

Die Wahl des Südamerikaners ist symptomatisch für das, was sich in den vielen Ordensinstituten von Schwestern, Brüdern und Priestern abspielt. In der Wahl von Papst Franziskus wird deutlich, dass die Zukunft der Kirche vor allem in jenen Kontinenten liegt, die früher “Entwicklungsländer” genannt und heute als “globaler Süden” bezeichnet werden. Die Verschiebung von Europa bzw. der westlichen Welt zum globalen Süden ist massiv spürbar in Ordensinstituten von Frauen, Priestern und Brüdern.

Viele dieser Ordensinstitute sind mehrere Jahrhunderte alt, wie etwa die Dominikaner, die Franziskaner, die Jesuiten, die Ursulinen und weitere. Andere wurden vor allem im Kontext der Industrialisierung errichtet, wie etwa die vielen Gemeinschaften von Ordensfrauen. Sie reagierten seinerzeit auf die Nöte der Menschen, die durch die Industrialisierung bedingt waren. Sie errichteten Krankenhäuser, Schulen und andere Einrichtungen quasi bei sich vor der Tür.

Viele von diesen Instituten haben später auf Nöte aus anderen Teilen dieser Welt reagiert und zwar zuerst im europäischen Nachbarland und später auch in Afrika, Asien und Südamerika. Sie machten sich auf den Weg und errichteten Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser, Geburtshäuser und andere Gesundheitsinstitute. Man verweist auf diese Tätigkeiten mit dem Begriff “Apostolatswerke”*. Diese wurden von Europäerinnen aufgebaut, geleitet und werden bis heute von Europa aus mitfinanziert. 

Begeistert von diesen Aktivitäten und der Spiritualität, aus der sich das Handeln dieser Frauen speiste, traten Einheimische den Ordensinstituten bei. Die Institute verzeichneten hunderte, wenn nicht tausende, Mitglieder. Dieses Wachstum führte dazu, dass die Institute  in sogenannte “Provinzen”* aufgeteilt wurden, während der Hauptsitz oftmals entweder in Rom oder in jenem Ort verblieb, in dem die Gründerin einst angefangen hatten.

Während die Zahl von Ordensmitgliedern im globalen Süden steigen, sieht sich der europäische Teil mit einer massiven Überalterung konfrontiert, da Neueintritte von Mitgliedern in der westlichen Welt seit etwa 50 Jahren nur noch äußerst selten sind. So selten, dass man sich die Frage stellen muss, wie es nun weitergehen wird – und zwar sowohl hinsichtlich der Leitung eines gesamten Institutes, als auch im Hinblick auf die Sicherstellung der finanziellen Situation, vor allem im globalen Süden.

"Europa wird finanziell noch einige Zeit an erster Stelle stehen, aber personell wird sich vieles ändern."

– Myriam Wijlens

Seit mehr als 25 Jahren berate ich Ordensinstitute weltweit hinsichtlich ihres kirchenrechtlichen Status. In den vergangenen zehn Jahren fokussierte sich die Beratung auf die Überalterung in den Ordensinstituten und die damit verbundenen Fragen bezüglich der Leitung: Wer kann leitende Aufgaben noch ausüben, wenn alle alt sind? Die Apostolatswerke in Europa werden in Stiftungen oder andere Rechtspersonen untergebracht, die von Nicht-Ordensangehörigen geleitet werden. Vor etwa drei Jahren wurde ich jedoch mit einer Situation konfrontiert, die mich nicht mehr losgelassen hat. Wie prekär die Situation ist, wurde mir schlagartig klar als ich innerhalb weniger Monate mit dem folgenden Sachverhalt konfrontiert wurde:

Ich durfte drei verschiedene Institute kirchenrechtlich beraten, die alle drei ihren Hauptsitz – man nennt es “Generalat”* – im nordeuropäischen Raum haben: Benelux, Deutschland, Österreich. Die Mitglieder der jeweiligen Institute werden hier in Europa sehr rapide älter und im Grunde, wie bei sehr vielen Gemeinschaften, werden sie ab etwa 2025 keine Mitglieder aus Europa mehr für die Leitung zur Verfügung stellen können. Alle drei haben eine etwa ähnliche Struktur: In Europa leben ihre Mitglieder in drei verschiedenen Ländern bzw. Provinzen  mit drei verschiedenen Sprachen (Italienisch, Deutsch, Niederländisch).

Im Jahr 2025 werden sie insgesamt noch etwa 160 Mitglieder haben, von denen fast die Hälfte über 90 Jahre alt sein wird und die andere Hälfte zwischen 80 und 90 Jahren. Lediglich vier bis sechs Mitglieder werden dann zwischen 70 und 80 Jahre alt sein. Jüngere wird es in Europa nicht mehr geben. Diese “jungen” Schwestern werden also die Verantwortung für ihre etwa 155 Mitschwestern in drei Ländern mit drei verschiedenen Sprachen haben.

Es stellt sich die Frage, wie da Leitung funktionieren soll, wie da Versorgung ausgeübt und wie die Versorgung der pflegebedürftigen Schwestern finanziert werden soll. Alle drei Institute haben aber auch in Tanzania eine Provinz mit jüngeren Schwestern, die inzwischen die Verantwortung für mehrere Krankenhäuser und Geburtskliniken innehaben. Diese Institutionen sowie auch die Ausbildung der Schwestern, welche erforderlich ist um die Institutionen zu führen, sowie deren Altersversorgung, werden jedoch von den europäischen Provinzen finanziell unterstützt, ja getragen. Mit Europa verbinden sich darüber hinaus die Partnerschaften mit den Krankenhäusern, die die Schwestern hier haben (oder hatten). Ab 2025 wird es schwierig sein, diese Verbindung aufrecht zu halten.

Mir wurde klar, was den Schwestern in Europa nicht klar war: Drei verschiedene Institute in Europa tragen also die Verantwortung für wesentliche gesundheitliche Einrichtungen in einer bestimmten Region in Tanzania und sie werden sich gleichzeitig aus dieser Region als “Unterstützer” zurückziehen. Große Fragenbereiche wurden damit ersichtlich: Erstens, was bedeutet dies für die Menschen in Tanzania, die auf diese gesundheitlichen Einrichtungen angewiesen sind? Zweitens, was bedeutet dies für die Versorgung und das Überleben der Ordensschwestern in Tanzania? Und drittens, wissen die drei Institute voneinander, dass sie sich gleichzeitig zurückziehen werden? Wie kommunizieren sie miteinander und wie kann ein Plan entwickelt werden, damit der Übergang gelingt?

Aber auch intern stellen sich Fragen: Welche Implikationen hat auch die Überalterung der europäischen Teile für die Leitung des gesamten Institutes? Letzte Frage stellt sich auch deswegen, weil oft zu hören ist, was damals bei der Papstwahl gesagt wurde: “Die Schwestern aus Afrika sind noch nicht so weit, dass sie die Verantwortung für das ganze Institut auf Weltebene übernehmen können.”

"Das Thema ist auf dem Tisch"

– Myriam Wijlens

Prof. Dr. Myriam Wijlens
Prof. Dr. Myriam Wijlens

Wie also soll das Institut weiterbestehen? Welche Lösungen können und müssen angedacht werden? Wie kann das scheinbar undenkbare, nämlich die weltweite Leitung an die Schwestern im globalen Süden übergeben werden? Europa wird finanziell noch einige Zeit an erster Stelle stehen, aber personell wird sich vieles ändern. Das impliziert eine Kulturveränderung in den Institutionen und eine Bereitschaft sich darauf einzulassen.

In einem der Institute war auch Andreas Machnik, Direktor der Filiale für Auslandskunden bei der Pax Bank eG in Köln, beratend tätig. Er ist bedingt durch seine Tätigkeit häufig im globalen Süden im Einsatz. Wir tauschten uns aus und stellten fest, dass die über lange Zeit gelebte Rollenverteilung zwischen der “altwerdenden Muttergemeinschaft” und der “jüngeren Missionsniederlassungen” vor einem massiven Umbruch steht. Es schien sinnvoll der Frage nachzugehen, ob und wie die bevorstehenden Änderungen für alle Betroffenen gemeistert werden können.

Wir sprachen über unsere Sorgen, Anliegen und Gedanken mit Sr. Agnesita Dobler, Generalsekretärin der Deutschen Ordensobernkonferenz (DOK) und entschieden im Herbst 2018 das Seminar “Missionstätigkeit im Strukturwandel: Problemstellungen und Handlungsoptionen im Fortführungs-/ Ablösungsprozess junger Missionsgebiete von älterwerdenden Muttergemeinschaften” in Erfurt im Bildungshaus Sankt Ursula anzubieten. Ziel war es vor allem, die Problematik mit Personen, die Leitungsaufgaben in Instituten ausüben, zuerst zu erkunden, um anschließend gemeinsam der Frage nachzugehen, in welcher Richtung Antworten gesucht werden können und müssen.

Einerseits war die Dringlichkeit des Problems klar, andererseits aber auch, dass klare Antworten und allgemein handlungsfähige Lösungsansätze nicht umgehend erarbeitet werden können und vielleicht auch gar nicht sinnvoll sind, denn wegen der verschiedenen Ausgangspositionen in den Instituten wird vermutlich doch eine maßgeschneiderte Lösung gesucht werden müssen. Ziel des Seminars war es deswegen vielmehr zusammenzutragen, welche Herausforderungen sich aus diesem Strukturwandel in rechtlicher, personeller, organisatorischer und wirtschaftlicher Hinsicht ergeben werden.

Impulsvorträge von Andreas Machnik über die finanziellen Aspekte sowie von mir aus kirchenrechtlicher Sicht bildeten den Auftakt. Die Veranstaltung sollte zugleich eine Plattform für Erfahrungsaustausch und Praxisbeispiele bieten, weshalb auch Pater Matthias Maier OFM, Präsident der Missionszentrale der Franziskaner e.V., aus seiner Erfahrung berichtete. Wir hatten mit einigen Anmeldungen gerechnet, nicht aber, dass doppelt so viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer Interesse zeigen würden wie Plätze vorhanden waren.

Nun erschienen in der Zeitschriftenreihe “Ordenskorrespondenz”  die Beiträge von Andreas Machnik, Pater Maier und mir in verschriftlicher Form. Das Thema ist damit auf dem Tisch und wird verfolgt werden. Ein spannendes Thema.

Glossar

  • Apostolatswerk bezeichnet das jeweilige Betätigungsfeld, auf dem eine Ordensgemeinschaft aktiv ist, z.B. die Krankenpflege und der damit verbundenen Errichtung und Aufrechterhaltung von Gesundheitseinrichtungen, oder im Bereich Bildung und den damit verbundenen Schulen.
  • Generalat (auch: Generalkurie) bezeichnet den zentralen Verwaltungssitz einer Ordensgemeinschaft in der römisch-katholischen Kirche.
  • Ordensprovinz (oder auch nur: Provinz) bezeichnet die regionale Untergliederung einer Ordensgemeinschaft. Jede Provinz besitzt eine eigene Leitung und einen eigenen Aufgabenbereich.
Zur Autorin

Prof. Dr. Myriam Wijlens ist Professorin für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt. Von 2008 bis Juli 2011 war sie Vizepräsidentin für Internationales der Universität Erfurt.

 Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören ekklesiologische und ökumenische Themen auf dem Hintergrund des kanonischen Rechtes. Sie veröffentlichte dazu mehr als neunzig Aufsätze in verschiedenen Sprachen und leitet als “Co-Moderatorin” die internationale Forschungsgruppe “Peter and Paul Seminar”. Veröffentlicht hat sie weiterhin z.B. “Sharing the Eucharist: A Theological Evaluation of the Post Conciliar Legislation. With a foreword by Johannes Cardinal Willebrands” und als Herausgeberin “Die wechselseitige Rezeption zwischen Ortskirche und Universalkirche. Das Zweite Vatikanum und die Kirche im Osten Deutschlands.”

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Publikationstipp zum Thema:

Myriam Wijlens, “Staffelübergabe der Muttergemeinschaften an junge Missionsgebiete” in: Ordenskorrespondenz. Zeitschrift für Fragen des Ordenslebens (60. Jahrgang, 2019, Heft 1, S. 16-27).
ISSN: 1867-4291

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